Sinefonia
Ute Henseler
Zwischen »musique pure« und religiösem Bekenntnis.
Igor Stravinskijs Ästhetik zwischen 1920 und 1939
Sinefonia, Band 9
Die Ästhetik Igor Stravinskijs, von der Wissenschaft bis heute nur kursorisch behandelt, gilt als kühles Plädoyer für eine Musik um ihrer selbst willen, frei von allem programmatischen oder metaphysischen Beiwerk. Das vorliegende Buch indes demonstriert anhand einer weit ausgreifenden Dokumentation und Problematisierung von Stravinskijs ästhetischem Werdegang in den beiden französischen Jahrzehnten, dass sich um 1930 zunehmend ein religiöser Subtext in seinen musikpoetologischen Maximen bemerkbar macht. Um dieser spirituellen Komponente auf die Spur zu kommen, wird das ganze Spektrum an musik- und schaffensphilosophischen Ideen offengelegt, das Stravinskij für sich adaptierte. Den ästhetischen Diskurs in Frankreich nahm der emigrierte Russe und Weltbürger nur durch den Filter diverser intellektueller Vorbilder, Ratgeber und Lehrmeister zur Kenntnis. Diese offerierten ihm, dem Pragmatiker, der seine Texte und Schriften meist von Anderen verfassen ließ, adäquate Deutungsmuster und eine stimmige Rhetorik. Ergänzt wird die Untersuchung durch eine Fallstudie zu Stravinskijs Opernoratorium Oedipus Rex (1926/27), in der demonstriert wird, wie es um das (alles andere als deckungsgleiche) Verhältnis von ästhetischen Leitsätzen und künstlerischer Praxis bestellt ist. Damit liegt erstmals eine umfassende Würdigung von Stravinskijs Reflexionen zum Wesen der Musik vor. Sein ästhetisches Credo zeichnet sich durch ein Ineinander von Purismus und religiösem Subtext, ein Changieren zwischen Selbstbehauptungswillen und Fremdzuschreibungen, durch Eklektizität und partielle Unstimmigkeit aus. Gerade diese Ambivalenzen jedoch, dieser Widerstreit eines Komponisten mit sich selbst, machen einen wesentlichen Teil von Stravinskijs Genie aus.
400 S., Notenbeisp., Pb., € 44.–, 978-3-936000-69-6